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Bei vollem Bewusstsein operiert werden

Zuletzt aktualisiert am 28. Februar 2024 Erstmals publiziert am 18. Februar 2021

Eine Gehirnoperation am wachen Mensch stellt besondere Ansprüche an das Team und die Patientinnen und Patienten.

D​ie Vorstellung ist erst einmal befremdlich: eine Operation am Gehirn, während der Patient oder die Patientin hellwach ist, auf Fragen antwortet, etwas vorliest oder sogar singt. Luca Regli, Direktor der Klinik für Neurochirurgie, kann das nachvollziehen. Er operiert mit seinem Team fast wöchentlich eine Patientin oder einen Patienten in einer sogenannten Wachoperation. Aber warum lässt man die Menschen den Eingriff nicht in tiefer Narkose verschlafen? «Wir können die Eingriffe, die wir an wachen Patienten und Patientinnen machen, auch in Narkose machen», erklärt Luca Regli. «Ist jemand wach, erhalten wir von ihm aber unmittelbar während der Operation Informationen, mit denen wir noch präziser und sicherer arbeiten können. Das Ergebnis der Operation wird dadurch besser.» Eingesetzt wird die Operationsmethode vor allem dort, wo Präzision und Sicherheit in höchstem Mass gefordert sind: bei Tumorentfernungen im Gehirn und bei funktionellen Eingriffen wie der tiefen Hirnstimulation bei Parkinson-Patienten und Parkinson-Patientinnen.

Maximal schonend operieren

Das Vorgehen ist dabei prinzipiell immer gleich: Während der Operation wird das Hirnareal, in dem operiert wird, mit elektrischen Impulsen stimuliert. Anhand der Reaktion der Patientinnen und Patienten auf diese Impulse können die Ärztinnen und Ärzte genau lokalisieren, bis wohin sie Schnitte setzen können, ohne Schaden bei der Hirnfunktion anzurichten, oder ob sie ein Gebiet, das gezielt stimuliert werden soll, genau getroffen haben. Bei einem Parkinsonpatientinnen und -patienten kann so noch während der Operation festgestellt werden, ob die Elektroden für die tiefe Hirnstimulation optimal gesetzt sind und es gelungen ist, das für diese Krankheit typische Zittern abzustellen. «Bei der Entfernung eines Tumors ist das Ziel, das Tumorgewebe möglichst vollständig zu entfernen und dabei das umliegende Hirngewebe so wenig wie möglich zu beschädigen», erklärt Luca Regli. «Diese Tumoren befinden sich oft in der Nähe des Sprachzentrums. Ein heikler Ort, denn schon winzige Distanzen können bei einem Schnitt darüber entscheiden, ob die Patientin oder der Patient durch die Operation sein Sprachvermögen verliert oder nicht. Ist die Person während der Operation wach, können wir anhand ihrer Reaktion die Grenzen am Übergang vom Tumorgewebe zum gesunden Gewebe viel präziser bestimmen.» Vereinfacht heisst das: Bevor die Chirurginnen und Chirurgen zu einem Schnitt ansetzen, wird das entsprechende Hirnareal über eine Sonde stimuliert und die Patientin oder der Patient zum Sprechen oder Lesen aufgefordert. An Veränderungen seiner Ausdrucksfähigkeit können die Ärztinnen und Ärzte dann ablesen, ob sie mit dem nächsten Schnitt das Sprachzentrum bereits schädigen oder ob sie noch gefahrlos Gewebe entfernen können.

Liegen die Patientinnen und Patienten während einer solchen Operation in Narkose, kann das Ergebnis der Operation erst festgestellt werden, wenn sie wieder wach sind. Für Korrekturen, etwa beim Sitz einer Elektrode, wäre ein erneuter Eingriff nötig, eine Schädigung des Sprachzentrums wäre gar nicht rückgängig zu machen. Und: Hirntumore machen sich leider in vielen Fällen erst bemerkbar, wenn sie schon weit fortgeschritten sind. Manche Tumorpatientinnen und -patienten haben also erst vor Kurzem von ihrer schweren Erkrankung erfahren, mitunter ist ihre verbleibende Lebenszeit plötzlich auf wenige Wochen geschrumpft. Die Sprachfähigkeit zu erhalten, hat vor diesem Hintergrund eine immense Bedeutung.

Operation am Gehirn

Hochspezialisiertes Teamwork

Vom chirurgischen Handwerk her unterscheiden sich Wachoperationen nicht von Operationen, bei denen die Patientinnen und Patienten schlafen. «Dass die Menschen wach sind, stellt aber an das ganze Team ganz andere, sehr hohe Anforderungen», so Luca Regli. «Die Patientinnen und Patienten sind in einer sehr speziellen Situation. Sie bekommen alles mit und sind sogar aktiv in die Operation einbezogen. Sie sind angespannt und unsicher, auch wenn wir ihnen vorher natürlich genau erklären, wie der Eingriff abläuft, und die Chancen und Risiken besprechen, bevor sie sich für eine solche Operation entscheiden. Unser Ziel ist es deshalb, dass unsere Patientinnen und Patienten darauf vertrauen, dass wir alles tun, um das beste Resultat für sie zu erreichen, und sie sich so wohl wie möglich fühlen. Dazu gehört zum Beispiel ganz konkret, extrem leise zu arbeiten, damit die Interaktion mit der Patientin oder dem Patienten nicht gestört wird. Und in kritischen Situationen immer die Ruhe zu bewahren. Die Betroffenen sollen ohne Angst vor Schmerzen in die Operation gehen und wissen, dass wir sie nicht alleine lassen.»

In der Klinik für Neurochirurgie führt deshalb ein hochspezialisiertes und erfahrenes, interprofessionelles Team die Eingriffe durch. Beteiligt sind neben den Chirurgen, Anästhesisten und der Pflege auch Elektrophysiologen, Logopäden und Neuropsychologinnen, Physio- und Ergotherapeuten. Monika Grimm, Abteilungsleiterin in der OP-Pflege, ist schon seit Jahren bei Wachoperationen dabei. «Wir fühlen dabei schon anders mit, als wenn jemand entspannt schläft. Für die Patientinnen und Patienten ist so eine Operation physisch und emotional unglaublich anstrengend und belastend. Viele waren noch nie zuvor in einem Operationssaal, dann gleich eine mehrstündige Operation am Gehirn, dabei wach sein, und die Bedenken und die Hoffnung, dass alles gut geht. Die Geräusche sind fremd, der Schrecken, wenn bei einem Stimulationstest die eigene Stimme fremdartig klingt oder die Artikulation vorübergehend ganz versagt.» Monika Grimm erinnert sich aber auch an einen Sänger, der während der Operation sogar sang. Hört bei Parkinson-Patientinnen und Patienten das durch die Krankheit verursachte Zittern der Hände durch den Eingriff plötzlich auf, ist das ein erfreulicher Moment: «Wir wissen, dass sie dadurch wieder massiv an Lebensqualität gewinnen. Da ist es nur zu verständlich, dass nach der ganzen Anstrengung Patientinnen und Patienten vor Erschöpfung auch einmal in Tränen ausbrechen.» Und Monika Grimm kann Luca Regli nur beipflichten, dass diese Eingriffe allen viel abverlangen. «Die Konzentration, das lange Stehen sind auch für uns anstrengend. Aber wir tragen unsere Patientinnen und Patienten und uns als Team gegenseitig durch diese Stunden.»

Schmerzfrei im Gehirn operieren

Christian Möhrlen gehört als Anästhesist zum Team. Auch sein Ziel ist es, den Patientinnen und Patienten so viel Erleichterung wie möglich zu verschaffen. «Die Hirnmasse ist schmerzunempfindlich. Deshalb sind solche Operationen überhaupt machbar. Aber die Kopfhaut und ein Teil der Hirnhäute sind empfindlich, und das Öffnen der Schädeldecke ist sehr unangenehm, das Bohren brummt ähnlich wie beim Zahnarzt, aber viel lauter.» Auch das notwendige straffe Einspannen des Kopfes und das lange Liegen können schmerzhaft sein. Neben einer Regionalanästhesie gegen die Schmerzen beim Schnitt in die Kopfhaut versetzt Christian Möhrlen die Patientinnen und Patienten deshalb am Anfang und am Ende in einen Halbschlaf, aus dem er sie dann für die entscheidenden Schritte der Operation wieder aufwachen lässt. Äusserst selten kann es bei den Operationen zu Krämpfen oder Blutungen kommen. Der Narkosearzt ist deshalb bei allen Eingriffen auch jederzeit bereit, bei Komplikationen die Patientin oder den Patienten zu stabilisieren und falls nötig eine Vollnarkose einzuleiten, damit die Operation dennoch abgeschlossen werden kann. Eine wichtige Rolle bei den Wachoperationen kommt den Logopädinnen und Logopäden sowie den Neuropsychologinnen und Neuropsychologen zu. Sie begleiten die Patientinnen und Patienten in der Abklärung, während der Operation und bei Nachuntersuchungen. Nicole Schmid, Leiterin Neuropsychologie am USZ, ist eine von ihnen. «Die Chirurginnen und Chirurgen haben grosse Erfahrung und ein gutes Gespür, welchen Patientinnen und Patienten sie überhaupt eine Wachoperation vorschlagen können. Entscheidet sich eine Patientin oder ein Patient grundsätzlich dafür, klären wir dennoch zusätzlich sorgfältig ab, ob er oder sie die psychische Belastung eines solchen Eingriffs aushalten kann.»

Referenztests vor der Operation

Ist der Entscheid gefallen, machen Logopädinnen und Logopäden und Neuropsychologinnen und Neuropsychologen eingehende Tests mit den Patientinnen und Patienten und führen lange Gespräche mit ihnen. Sie dienen den Neuropsychologinnen und Neuropsychologen als Referenz für die Operation. Denn um die durch die Stimulation ausgelösten Veränderungen beim Sprechen, Wortfindungsprobleme oder Veränderungen in der Atmung richtig einschätzen zu können, müssen sie wissen, wie der Mensch sich vor der Operation artikuliert, wie er liest, spricht oder atmet. «Auch die Lage des Tumors gibt Aufschluss darüber, mit welchen Veränderungen wir bei der Stimulation der Hirnareale rechnen müssen, um den Chirurginnen und Chirurgen die richtigen Informationen zu liefern.» Ist der Tumor rechtsseitig, haben die Patientinnen und Patienten meistens mehr Mühe mit Sprechen, mit der Artikulation, der Stimme oder dem Atmen. Ist der Tumor in der linken Hirnhälfte, kann die Patientin oder der Patient eher nicht mehr Lesen oder Schreiben, Gelesenes nicht mehr verstehen, oder ihm fehlen Wörter. Während der Operation von Tumoren, die in kritischer Nähe sprachrelevanter Hirnareale liegen, sind die Neuropsychologinnen und Neuropsychologen sowie die Logopädinnen und Logopäden die Gesichter, welche die fixierten Patientinnen und Patienten sehen. Weil sie nicht nur Veränderungen der Spontansprache und des Sprachverständnisses, sondern auch kleinste Veränderungen in der Gesichtsmotorik der Patientinnen und Patienten bemerken müssen, die auf Komplikationen hinweisen könnten, verbringen sie diese Stunden sehr nah an den Patientinnen und Patienten. Manchen Patientinnen und Patienten hilft es, dass sie aktiv etwas zur Operation beitragen können, andere fühlen sich dennoch stark ausgeliefert. «Die Menschen erleben während der langen Operation auch Phasen der Müdigkeit oder erleiden psychische Krisen. Auch deshalb ist es unabdingbar, dass sie immer jemanden sehen können. Durch die präoperativen Abklärungen haben wir ein Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen und Patienten. So versuchen wir denn auch, ihnen psychisch über diese Momente wegzhelfen, um die Operation mit voller Kooperation der Betroffenen durchführen zu können.»

Verantwortlicher Kaderarzt

Luca Regli, Prof. Dr. med.

Klinikdirektor, Klinik für Neurochirurgie

Tel. +41 44 255 29 92

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