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Klinische Ethik: «Wir können viel und müssen wenig»

Zuletzt aktualisiert am 14. Dezember 2021 Erstmals publiziert am 22. September 2017

Grenzsituationen und schwierige ethische Fragen stellen sich in einem Spital täglich. Oft ist ein Entscheid dringend. Die Klinische Ethik befasst sich mit konkreten Lösungen in schwierigen Fällen. Ein Gespräch mit Tanja Krones, Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees am UniversitätsSpital Zürich.

Soll die nebenwirkungsreiche Therapie von Herrn M. fortgesetzt werden, obwohl sie aussichtslos ist? Der Patient bittet darum, das Team ist sich nicht einig. Frau B. hat in ihrer Patientenverfügung festgehalten, dass sie bei fortgeschrittener Demenz keine Antibiotikagabe mehr will. Die Angehörigen drängen auf eine Behandlung der Lungenentzündung und sind der Meinung, Frau B. geniesse ihr Leben trotz der geistigen Einschränkungen durchaus noch. Soll der Verfügung Folge geleistet werden? Schon wenige Beispiele aus dem Alltag zeigen auf, wie breit das Spektrum der Fragestellungen rund um die Klinische Ethik ist. Und wie schwierig es ist, Entscheidungen zu fällen.

Wie arbeitet in diesem Spannungsfeld die Klinische Ethik am USZ? Tanja Krones, Geschäftsführerin des Klinischen Ethikkomitees am USZ: «Wir befassen uns mit konkreten Problemlösungen und unterstützen Patienten und Angehörige dabei, in schwierigen Situationen Entscheidungen zu treffen. Wir beraten aber auch einzelne Mitarbeitende oder Teams. Das kann in einem einberufenen Ethikkonsil zu einem bestimmten Fall sein, in einer Einzelberatung oder in interprofessionellen Teambesprechungen. In vielen Bereichen sind wir regelmässig dabei, wie bei wöchentlichen Fallbesprechungen auf Intensivstationen, in Tumor- und in Listing-Boards für Organspenden.»

Wichtig ist, dass ethische Fragen im klinischen Alltag zur Sprache kommen, etwa die Ernährung einer Patientin gegen ihren vorgängig geäusserten Willen. Dadurch erhalten diese Fragen keinen Ausnahmestatus, denn auch ethische Gespräche und Diskussionen sind einfacher und kommen rascher zum Ziel, wenn sie geübt sind. Dazu tragen die Ethikverantwortlichen in den Kliniken und Abteilungen als erste Ansprechpartner und Multiplikatoren bei. «Häufig besteht ein Dilemma, es gibt verschiedene Wege und Optionen. Wir sind dazu da zu helfen, mit einem neutralen Blick, mit einem strukturierten Gespräch, mit den wichtigen Fragen. Dadurch kommt ein Prozess in Gang, an dessen Ende oft ein vertieftes Verständnis oder eine tragfähige Lösung steht. Oft eine, an die man anfänglich gar nicht gedacht hat. Wir können viel, und müssen (juristisch) wenig», umschreibt Tanja Krones den Spielraum, der am USZ bei ethischen Konflikten offensteht.

Steigende Fallzahlen durch Ethik-Routine

Die Einbindung ethischer Fragen in die klinische Routine ist ein Grund, weshalb die Zahl der bearbeiteten Fälle seit der Etablierung der Klinischen Ethik stetig zunimmt. Waren es 2009 noch wenige Fälle, verzeichnet der Jahresbericht der Klinischen Ethik für 2016 erstmals über 1000. Die meisten davon betrafen intensivpflegepflichtige Patienten. Die häufigsten Fragen stellen sich zu Therapieumstellungen, Zwangsbehandlungen und die Behandlung vulnerabler Gruppen wie Kinder, Menschen mit Behinderungen, Patienten mit zusätzlichen psychiatrischen Erkrankungen oder mit Sprachbarrieren. Die mit Abstand häufigsten Probleme betreffen den Umgang mit einer nicht ausreichend klaren Patientenverfügung und Fragen zur konkreten Umsetzung einer Verfügung in der Behandlung. Die Klinische Ethik befasst sich aber auch mit Fragen der Ethik in der Forschung und Wissenschaft (Scientific Integrity) und erarbeitet gemeinsam mit interprofessionellen Teams am USZ Richtlinien und Weisungen zu bestimmten Problemstellungen wie Reanimationsentscheide, Suizidbeihilfe oder Behandlung von Patientinnen und Patienten der Glaubensrichtung Zeugen Jehovas. Mitglieder des Klinischen Ethikkomitees sind zudem in der ethischen Forschung aktiv und in nationalen und internationalen Gremien zu klinisch-ethischen Fragen präsent.

Auch das USZ ist nicht ethisch neutral

Der Fortschritt in der Medizin ist oft mit dem Ausloten oder Überschreiten bestehender Grenzen verbunden, wobei überkommene gesellschaftliche und moralische Haltungen infrage gestellt bzw. Antworten auf neue ethische Fragen gefordert sind. Beispiele der letzten Jahre sind neue Prozesse um die Organspende nach Herzstillstand oder Gesichtstransplantationen. «Wir müssen uns dann immer fragen, wo wir hinwollen, ob wir alle angehört haben, die gefragt werden müssen, und ob das, was wir vorhaben, gut ist.» Ein heikler Punkt. Denn hinter dem Prädikat «gut» steht immer eine Wertung. Wie geht das USZ damit um? «Es stimmt, genau genommen können wir nicht von neutral sprechen», gesteht Tanja Krones ein. «Der Begriff beschreibt zwar unsere Haltung recht passend, insofern wir kein konfessionell gebundenes Haus sind. Aber wir sind sogar sehr parteiisch. Denn die absolut zentrale und leitende Frage bei allen unseren Überlegungen ist: Was ist der Wille des Patienten»?

Advance Care Planning – eine hilfreiche Patientenverfügung

Ist der Wille eines nicht mehr urteilsfähigen Patienten bekannt, entlastet dies die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, das Pflegeteam und die Angehörigen enorm. Und gerade wenn dieser Wille deren persönlichen Überzeugungen widerspricht, ist es einfacher, diesen Zwiespalt zu überwinden, wenn man weiss, dass das Vorgehen den ausdrücklichen Wunsch des Patienten respektiert. Deshalb sind eindeutige Patientenverfügungen so wichtig und hilfreich. «Wir erleben leider häufig, dass Patientenverfügungen zwar ausführlich sind, in entscheidenden Punkten jedoch der gesundheitlichen Situation oder den gesetzlichen Anforderungen nicht entsprechen und deshalb nicht so umgesetzt werden können, wie es sich der Verfasser gewünscht hat», schildert Tanja Krones. Eine für alle Fälle gültige Verfügung zu erstellen, ist nicht einfach und idealerweise ein längerer und wiederholter Prozess, in den auch die Angehörigen und die behandelnden Ärzte involviert sein sollten. Das aktuell vom BAG unterstützte Konzept der gesundheitlichen Vorausplanung (engl. Advance Care Planning) nimmt sich dieses Problems in einer Taskforce an, in der auch das Klinische Ethikkomitee vertreten ist. Am USZ beraten und begleiten geschulte Mitarbeiterinnen beim Verfassen einer solchen Patientenverfügung.

Informieren, respektieren und begleiten

Ziel der Klinischen Ethik ist es nicht, dem Patienten eine konkrete Empfehlung zu geben. Das widerspräche dem Grundsatz, dass niemals der Arzt entscheiden darf und muss, welcher Weg der beste ist. «Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass Patienten alle Behandlungsmöglichkeiten aufgezeigt bekommen, so dass sie wohlinformiert Entscheide fällen können. Wir unterstützen Patienten und die Behandlungsteams nach Bedarf bei der bestmöglichen Umsetzung. Dafür fördern wir zusammen mit dem Bildungs- und dem Simulationszentrum verschiedene, kommunikative Fort- und Weiterbildungen, bspw. Tranings für das Überbringen schlechter Nachrichten», fasst Krones den Grundgedanken einer exzellenten Behandlung und Betreuung zusammen. «Wenn Eltern zum Beispiel erfahren, dass ihr Kind schwer behindert sein wird, zeigen wir auf, was das aus medizinischer Sicht heisst, welche Einschränkungen das Kind haben wird und was wir an Therapie anbieten können. Wir können den Eltern Kontakte zu ebenfalls betroffenen Eltern verschaffen. Aber: Den Entscheid, ob sie das Kind bekommen oder welche Therapien sie in Anspruch nehmen, können, wollen und dürfen wir ihnen nicht abnehmen. Wie sie sich auch entscheiden, wir begleiten sie am USZ auf dem Weg, den sie gewählt haben.»

Anders, als viele vermuten, wird der Wunsch nach einem assistierten Suizid von Patienten am Lebensende nur ganz selten geäussert. «Wenn wir den Patienten aufzeigen, mit welchen Massnahmen wir ihr Leiden bis zuletzt erträglich machen können, tritt der Wunsch nach einem raschen Tod häufig wieder in den Hintergrund. Sollte das doch ihr Weg sein, sorgen wir dafür, dass dies auch angesprochen werden kann und die Patienten keine Steine in den Weg gelegt bekommen». Und wenn sie selber von einem Patienten gefragt wird: «Was würden Sie an meiner Stelle tun»? «Das kommt bei mir, bei Ärzten und Pflegenden immer wieder vor. Dann darf ich auch meine Meinung als eine Sichtweise einbringen. Aber jeder Fall und auch meine Sicht ist individuell und situativ. Die Frage ist deshalb eher ein guter Aufhänger, um im Gespräch herauszufinden, welche Werte, Bedürfnisse und Vorstellungen der Patient hat».

Wie beurteilt Tanja Krones das Thema Ethik in der Ausbildung? «Es wird dort schon einiges vermittelt. Die Medizinstudierenden und die Pflegefachpersonen sind meist sehr sensibel für das Thema und kommen mit einigen Kenntnissen aus dem Studium und der Ausbildung. Prägend ist dann, wie ihre Vorgesetzten in der Praxis mit dem Thema umgehen. Da sind wir am USZ auf einem guten Weg».

Klinische Ethik am USZ

Prof. Dr. med. dipl. soz. Tanja Krones ist Geschäftsführerin der Klinischen Ethik am USZ, stellvertretender Geschäftsleiter ist Dr. sc. med. Settimio Monteverde. Das Komitee besteht aus 16 Mitgliedern und vereint ärztliche und pflegerische Expertise. Dazu kommen Seelsorge, Forschung, Rechtsdienst, Patientenberatung und ein Patientenvertreter. Präsident des Klinischen Ethikkomitees ist Prof. Dr. med. Lars. E. French, stellvertretende Präsidentin Prof. Dr. med. Dr. phil. Nikola Biller-Adorno von der Universität Zürich. Neben der Beratung in konkreten ethischen Fragen bietet die Klinische Ethik Fortbildungen an und erarbeitet ethische Empfehlungen und Weisungen zu bestimmten Fragestellungen. Sie betreibt Forschung und ist unter anderem an vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Projekten beteiligt, darunter das interdisziplinäre Nationale Forschungsprogramm «Lebensende» (NFP 67).