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Der Weg zur klimaneutralen Anästhesie

Zuletzt aktualisiert am 04. April 2024 Erstmals publiziert am 03. April 2024

Sie werden eingesetzt, um eine Bewusstlosigkeit, Muskelentspannung und Schmerzunempfindlichkeit zu erzeugen. Gleichzeitig sind Anästhesiegase hochpotente Treibhausgase. Das USZ setzt sich für eine weitere Reduktion ein.

Viele Menschen müssen sich im Laufe ihres Lebens einem operativen Eingriff unterziehen. Damit die Menschen während der OP keine Schmerzen verspüren, greift die moderne Medizin auf verschiedene Narkoseformen zurück. Je nach Art des Eingriffs wird der Anästhesist oder die Anästhesistin eine Regionalanästhesie, eine Vollnarkose oder eine Analgosedation vorschlagen, um die Patienten ohne Schmerzen durch den operativen Eingriff zu begleiten. Narkosegase sind Substanzen, die am USZ bis vor einigen Jahren während chirurgischer Eingriffe zur Erzeugung einer Anästhesie (griech. Anaisthesis, «Empfindungslosigkeit») verwendet wurden. Diese Gase, auch als Inhalationsanästhetika bekannt, führen bei der Patientin zu einem reversiblen Bewusstseinsverlust. Sie wirken, indem sie das zentrale Nervensystem beeinflussen und die Übertragung von Nervenimpulsen hemmen. Unter anderem solche, die mit Schmerzempfindungen verbunden sind.

«Wir wählen für unsere Patientinnen nicht nur das bestmögliche Anästhesieverfahren aus, sondern denken dabei auch immer an die Umwelt.»

Corinna von Deschwanden, Leitende Ärztin am Institut für Anästhesiologie

Ein weiterer Vorteil ist die gute Steuerbarkeit der Anästhesie: Der Patient bleibt nur für die nötige Dauer unter Vollnarkose und erlangt kurze Zeit nach Beendigung der Operation das Bewusstsein wieder. In den letzten Jahren aber wurden gerade bei den Vollnarkosen die inhalativen Anästhetika, wie zum Beispiel Desfluran, Sevofluran, Isofluran oder Lachgas, zunehmend infrage gestellt.

15’000 Kilometer in sieben Stunden

Inhalative Narkosegase haben einen nicht vernachlässigbaren Nachteil: Desfluran, Isofluran und Sevofluran sind starke Treibhausgase und somit extrem schädlich für die Umwelt. Desfluran etwa ist 2540-fach, Isofluran 510-fach und Sevofluran noch 130-fach klimaaktiver als CO². Ein etwas konkreterer Vergleich: Die durch eine siebenstündige Narkose verursachte Umweltbelastung mit Desfluran entspricht in etwa einer 15’000 Kilometer langen Fahrt mit einem benzinbetriebenen Personenwagen.

Spitäler verursachen in verschiedenen Bereichen Treibhausgasemissionen. Rund sieben Prozent der nationalen CO²-Emissionen entfallen auf den gesamten Gesundheitssektor. Neben den Narkosegasen, Medikamenten und Einweginstrumenten verursacht beispielsweise auch das Kochen von Mahlzeiten für Tausende von Personen Treibhausgase. Die Fachabteilung für Medizintechnik und Anästhesiologie am USZ hat sich vor einigen Jahren bereits zum Ziel gesetzt, den ökologischen Fussabdruck des Instituts zu reduzieren. Weil das Problem der Klimaaktivität der inhalativen Narkosegase schon länger erkannt wurde, wurde auf deren Einsatz ein besonderes Augenmerk gelegt.

Patient im Zentrum

Am USZ werden jährlich ca. 30’000 Anästhesien durchgeführt. Hierbei wird eine Vielzahl verschiedener Verfahren angeboten und auch verschiedene Anästhetika verwendet. Neben der Sicherheit und der bestmöglichen medizinischen Betreuung der Patientin kommt bei der Wahl des Vorgehens der Nachhaltigkeit der verschiedenen Anästhesieverfahren eine grosse Bedeutung zu. In der Anästhesie am USZ gibt es kein «one size fits all»-Konzept: Das Vorgehen wird individuell mit jedem Patienten und jeder Patientin besprochen und abgestimmt.

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Umsetzung bereits vor der Weisung

Gezielte Massnahmen wurden auf Initiative des Instituts ergriffen. Neben Desfluran, dem klimaschädlichsten Narkosegas, wurde mit Isofluran auch das zweitschädlichste bereits vor 2022 aus den Operationssälen am USZ verbannt. Seit Anfang 2022 besteht in der Anästhesiologie eine Weisung, die den Einsatz von klimaschädlichen Narkosegasen limitiert. So wird am USZ in der Anästhesie derzeit nur noch Sevofluran verwendet. Lachgas, das ebenfalls eine klima- und ozonschädigende Wirkung hat, wird seit über zwanzig Jahren nicht mehr verabreicht und findet nur noch in der Klinik für Geburtshilfe Verwendung – aber auch da immer seltener.

Propofol als Alternative

Bei den meisten Operationen lassen sich die klimaaktiven Anästhesiegase durch intravenöse Narkosemittel wie Propofol ersetzen. «Am USZ machten wir die total intravenöse Anästhesie zur Standardanästhesie. Es gibt jedoch gewisse klar definierte medizinische Indikationen, bei denen weiterhin eine inhalative Anästhesie mit Sevofluran notwendig und sinnvoll ist», weiss Corinna von Deschwanden, Leitende Ärztin und Nachhaltigkeitsbeauftragte am Institut für Anästhesiologie. Am USZ werden viele schwer kranke Menschen behandelt, weshalb nicht in jedem Fall eine Anästhesie mit Propofol durchgeführt werden kann – beispielsweise nach längerem Aufenthalt auf der Intensivstation und Dauersedation mit Propofol.

Die Anweisung für eine Anästhesie mit Sevofluran stellt die verantwortliche Oberärztin auf Basis der Weisung. Seit deren Einführung konnte der Verbrauch des einzigen noch verbleibenden Narkosegases Sevofluran bereits 2022 um die Hälfte reduziert werden. Am Institut für Anästhesiologie setzen sich viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konstant für mehr Nachhaltigkeit in der Anästhesie ein.

Die Reduktion oder die Abschaffung von inhalativen Anästhetika stellt dabei eines von mehreren Projekten dar: «Wir befinden uns in einem Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Eine komplett klimaneutrale Anästhesie ist schwierig zu erreichen», weiss Corinna von Deschwanden. Durch die Umstellung auf Propofol als Standardanästhesie sind auch Anpassungen bei den Arbeitsabläufen notwendig. Ein Beispiel: Die Aufwachphase dauert bei diesen Patientinnen um ein Vielfaches länger als mit inhalativen Narkosegasen. Dadurch benötigen sie länger medizinische Betreuung. Entscheidungen in Bezug auf Nachhaltigkeit sind immer mehrdimensional und meist komplex.

Mehr geht immer

Bislang geschieht die Abführung der Gase mittels des sogenannten Anästhesiegas- Fortleitungssystems. Es ist ein Kupferleitungssystem, das die inhalativen Anästhesiegase mittels eines Schlauchs absaugt und über das Dach oder die Fassade abführt. Neben der starken Reduktion des Gebrauchs ist es dem USZ ein Anliegen, die verbleibende Menge an inhalativen Anästhetika zu recyceln und so den ökologischen Fussabdruck weiter zu verkleinern. «Eine Möglichkeit, diese Gase zu binden und so zu recyceln, sind kohlenstoffbasierte Filter», sagt Fabio Tonina. Dafür wurde eine Marktanalyse durchgeführt, in der verschiedene Produkte verglichen wurden. «In einem nächsten Schritt wollen wir Tests durchführen», blickt der Technische Projektleiter Medizinische Gasversorgung in die Zukunft.

Verantwortliche Fachperson

Corinna Von Deschwanden, MBA, Dr. med.

Leitende Ärztin, Institut für Anästhesiologie

Tel. +41 43 253 82 33
Spezialgebiete: Transplantationsanästhesie, Anästhesie in der Thorax- und Viszeralchirurgie

Verantwortlicher Fachbereich