Story

Hindernislauf

Daniel Tanner erlitt vor drei Jahren in der Freizeit einen Stromunfall. Mehr als die Hälfte seiner Hautoberfläche war verbrannt. Jetzt ist er zurück auf seinem Weg ins Leben.

Von seinem Unfall weiss Daniel Tanner nur, was seine Freunde und ein Zeuge ihm erzählt haben. Seine Erinnerung setzt etwa zehn Minuten davor aus und ist bis heute nicht zurückgekehrt. Mit Freunden war er an diesem Sommerabend vor drei Jahren unterwegs beim Parkour, einem Sport, bei dem es gilt, Hindernisse auf dem kürzesten Weg zu überwinden. Der Bahnwaggon schien anspruchsvoll, aber machbar. Dass er auf die Stromleitungen aufpassen muss, wusste Daniel Tanner, aber der Strom sprang über einen Lichtbogen
auf ihn. Brennend stürzte er einige Meter vom Waggon auf den Boden. Vielleicht sein Glück, denn die Stromzufuhr zu kappen, hätte etwa dreissig Minuten gedauert. Erst im Universitätsspital Zürich auf der Station für brandverletzte Patienten kam der damals 21-jährige Student wieder zu sich. Mehr als 50 Prozent seiner Hautoberfläche waren verbrannt. Jemand erzählte ihm, was passiert war, erklärte ihm, dass er schwer verletzt sei. Im Nebel von Schmerzen und Medikamenten konnte er diese Informationen nicht wirklich einordnen. Sein erster Gedanke und seine erste Erinnerung: Durst! Quälender Durst, der über Tage anhielt. Sprechen konnte er aber nicht, trinken durfte er nicht. Die Versorgung mit Wasser lief über Infusionen und war genau bemessen, um seinen Körper nicht zusätzlich zu belasten. Um mit ihrem Sohn zu kommunizieren, bringen seine Eltern ein Alphabet mit, auf dem er die einzelnen Buchstaben anzeigen kann. Jeden zweiten Tag nehmen sie mehrere Stunden Fahrtzeit auf sich, um bei ihm zu sein, an den anderen Tagen besuchen ihn Freunde.

An den schlimmsten Tagen will er niemanden sehen 
Fünfeinhalb Monate wird er im Spital verbringen, drei davon auf der Intensivstation, denn es gibt Komplikationen. Multiresistente Keime. Eine Blutvergiftung. Lungenprobleme. Der Stromschlag hat auch seinen Darm geschädigt, mehrere Notoperationen sind nötig, um ihn zu retten. Es sind Rückschläge, die ihn in ein Tief werfen. Tage, an denen er niemanden sehen möchte. «Man kann sich nicht an Schmerzen gewöhnen», sagt Daniel Tanner rückblickend. In der ersten Zeit, als die Schmerzmittel noch nicht optimal wirkten, hatte er Halluzinationen, die ihn schwer belasteten. Ebenso wie die völlige Abhängigkeit. Fernsehen ist eine Reizüberflutung, aber er hat ohnehin zu wenig Kraft, um einen Knopf zu drücken. Doch jeder noch so kleine Fortschritt spornt ihn wieder an. Die Besuche seiner Eltern und Freunde sind eine wichtige Stütze. Irgendwann kann er wieder Musik hören. Das ist ihm wichtig. Daniel Tanner spielt Geige, er möchte Berufsmusiker werden. Seine Mutter hat das in einem der ersten Gespräche mit den Ärzten erwähnt. Sie versuchen alles, um die Funktion seiner Arme und Hände maximal zu erhalten, wenden eine neue Therapie mit Ananasenzymen an, um keine Haut transplantieren zu müssen. Sein Oberkörper ist sonst wenig betroffen, am schlimmsten verbrannt sind die Beine. Als die Schmerzen nicht mehr auszuhalten sind, bittet er die Ärzte, seine Beine zu amputieren.

Sie haben es nicht getan. Daniel Tanner verbringt nach dem Spital noch drei Monate in der Reha. Seit einiger Zeit kann er mit einer Orthese, aber ohne Krücken gehen. Er kann sogar wieder eine kurze Strecke joggen, obwohl in den Beinen Sehnen und Nerven fehlen und transplantierte Hautstellen die Beweglichkeit einschränken. An seinen Armen sind die Verletzungen kaum mehr zu sehen. Er kann wieder Geige spielen. «Es ist aber nicht mehr wie zuvor, auch wenn ich im Alltag mit meinen Einschränkungen zurechtkomme und sich manches sicher noch verbessert. Ich kann mich auf meine Beine nicht mehr so verlassen wie vorher, bin nicht mehr so stabil, muss Stürze vermeiden, um mich nicht zu verletzen. Ich muss aufmerksamer mit meinem Körper umgehen.» Wie konnte er seinen Unfall psychisch verarbeiten? «Es ist ein schwieriger Prozess. Ich hatte viel Glück, der Unfall hat mich aber verändert. Ich mache mir mehr Gedanken als früher. Höre ich einen Krankenwagen oder lese von einem Brandunfall, geht mir das nahe. Es gibt ein Video von dem Unfall, bisher habe ich es mir nicht angesehen. Den Unfallort habe ich aber ganz bewusst besucht. Ich wollte wissen, ob das etwas in mir auslöst. Davon wollte ich mich nicht überraschen lassen. Mein Leben lief wie auf Schienen, dann gab es einen Unterbruch. Ein Jahr lang war nichts mehr normal. Nun versuche ich wieder auf die Schiene zu kommen.»

 

«Wir schauen immer nach vorne.»

Mireille Tanners Sohn wurde bei einem Starkstromunfall schwer verletzt. Die
Monate zwischen Hoffen und Bangen haben sie und ihre Familie geprägt.

Mireille Tanner, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Nachricht vom Unfall Ihres Sohnes bekamen?

​Als der Anruf kam, war das ein Schock. Ich habe sofort meinen Mann verständigt, wir haben buchstäblich alles stehen und liegen gelassen und sind ins Unispital nach Zürich gefahren. Richtig erfasst, wie schwer unser Sohn verletzt war und was das bedeutete, haben wir erst, als wir ihn im Spital gesehen und erste Gespräche mit den Ärzten geführt hatten.

Ihr Sohn lag fast ein halbes Jahr im Spital. Wie sind Sie mit dieser Belastung umgegangen?

​Wir haben ihn so oft wie möglich besucht. Ich konnte mir glücklicherweise die Zeit dafür nehmen und jeden zweiten Tag ins Spital fahren. Es war dennoch eine schwierige Zeit, eine dauernde  Ausnahmesituation. Mein Sohn hat ja wahnsinnig gelitten. Ich bin nach einigen Wochen selbst krank geworden. Das war ein Alarmzeichen für mich, dass ich auch auf mich achten muss. Zum ersten Mal etwas aufatmen konnte ich jedoch erst, als er in die Reha ging.

Es gab immer wieder Komplikationen. Was hat Ihnen in Krisen geholfen?

​Mein Mann und ich konnten uns zum Glück gegenseitig Halt geben, wenn einer von uns ein Tief hatte. Sehr geholfen haben mir auch Gespräche im Freundeskreis, die über ein gut gemeintes, aber hilfloses «Das wird schon wieder» hinausgingen. Und natürlich zu sehen, dass es meinem Sohn zunehmend besser ging. Auch der Austausch mit seinem Freundeskreis war ein Aufsteller.

Wie haben Sie Ärzte und Pflege am USZ erlebt?

​Das wöchentliche Familiengespräch war für uns sehr wichtig. Das Behandlungsteam sprach sehr professionell und offen mit uns. Das war nicht immer angenehm, aber extrem hilfreich. Der tägliche Anruf der Pflege, die uns über den aktuellen Stand informierte, war ein Fixpunkt im Tag. Und wir wussten, dass wir zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen konnten, wenn wir Fragen hatten oder uns sorgten. Wir hatten grosses Vertrauen in das Team.

Wie blicken Sie heute auf diese Zeit zurück?

​Viele meinen, jetzt wäre doch alles wieder gut. Aber es wird nie mehr so sein wie vorher. Ich denke täglich kurz daran, bin auch ängstlicher geworden, dass einem Angehörigen etwas passieren könnte. Vieles, das mir vorher wichtig schien, sehe ich dafür jetzt entspannter. Unser Motto war immer, dass wir zusammen nach vorne schauen und nicht zurück. Daran halten wir fest.

Mit dem Bezug des neuen USZ Gebäudes SUED2 hat das USZ eines der führenden Zentren für Brandverletzte in der Schweiz.