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HIV: «Noch sind viele Fragen offen»

Zuletzt aktualisiert am 08. Februar 2022 Erstmals publiziert am 01. Dezember 2017

In der Schweizerischen HIV-Kohortenstudie (SHCS) forschen Schweizer Wissenschaftler seit 1988 zu HIV. Welches waren die grössten Erfolge der Studie und welche Fragen sind noch offen? Wir haben den Präsidenten der SHCS, Prof. Dr. med. Huldrych Günthard, Leitender Arzt in der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am USZ gefragt.

​Die Schweizerische HIV-Kohortenstudie wurde in einer Zeit gegründet, also HIV und AIDS erstmals im Bewusstsein der breiten Bevölkerung auftauchten. Welche Fragen stellten sich damals den Forscherinnen und Forschern?

Es gab unzählig viele Fragen, die erste war: Was ist überhaupt dieses Humane Immundefizienzvirus, das die Immunschwäche AIDS verursacht? Das war damals völlig neu und hat eingeschlagen wie eine Bombe. Bevölkerung, Ärzte, Pflegende und die Politiker – alle waren enorm verunsichert, als sie realisierten, dass da ein neues, bisher unbekanntes Virus plötzlich eine Vielzahl von vorher gesunden jungen Menschen dahinraffte.

Wie breitet sich das Virus aus? Sind nur schwule Männer betroffen (das glaubte man ganz am Anfang), oder auch heterosexuelle Leute? Was ist da los in der Drogenszene? Was müssen im Spital für Vorsichtsmassnahmen getroffen werden? Die Angst unter Ärztinnen, Ärzten und Pflegenden war riesig, viele wollten mit diesen Menschen nichts zu tun haben. Auch am USZ nicht. Damals gab es am Platzspitz in Zürich eine der weltweit grössten offenen Drogenszenen. Deshalb kam auch die Frage auf, ob die drogenabhängigen Menschen spezielle Präventionsmassnahmen brauchen.
Der Verlauf der Infektion gab uns Rätsel auf, deshalb war man auch bei der Behandlung ratlos. Gibt es überhaupt eine Therapie, wie behandelt man die aids-definierenden Krankheiten am besten? Gibt es Möglichkeiten für eine Impfung? Das war schon damals ein grosses Thema, und ist es bis heute geblieben. Wir fragten uns, wie das HI-Virus überhaupt die Immunschwäche verursacht, und warum so viele T-Helferzellen absterben. Wie lange muss man infiziert sein, bis man stirbt? Können wir den Tod mittels gezielter Massnahmen verzögern? Zum Beispiel mit neuen Therapien gegen das Virus, gegen gewisse opportunistische Infektionen, also weitere Infektionen, gegen die sich der abwehrgeschwächte Körper nicht wehren konnte. Man überlegte, ob es in der alternativen Medizin Mittel geben könnte, bspw. ob gesund leben hilft.

Zeichnete sich damals schon ab, dass man eine lange Strecke wird gehen müssen?

Es zeigte sich sehr schnell, dass dieses Virus völlig anders war als andere, die wir vorher kannten. Ein Virus, das sexuell, über Blut und von der Mutter aufs Kind übertragen wird und zu einer tödlichen Immunschwäche führt, hatte es so vorher noch nicht gegeben. Eine spezielle Eigenschaft von HIV ist, dass man es sehr lange in sich tragen kann, bevor man AIDS bekommt und schliesslich sogar daran stirbt. D.h. es kann so auch «still», sprich unbemerkt übertragen werden.

Welche Erfolge konnten Sie verbuchen?

Die SHCS konnte sich sehr früh ein Bild machen über die HIV-infizierten Menschen in der Schweiz. Sie half auch die Diagnostik zu verbessern und den Krankheitsverlauf generell besser zu verstehen. Sie hat viel dazu beigetragen, dass verschiedene opportunistische Infektionen besser verstanden und effizienter therapiert werden konnten. Das kommt heute auch anderen immunsupprimierten Menschen zugute, die eine Transplantation oder eine Chemotherapie hinter sich haben.

Die SHCS war auch ein Zeichen der Schweizer Gesellschaft, dass man nicht einfach akzeptieren wollte, was da passierte; dass man es mit dieser unheimlichen Krankheit aufnahm und sich dagegen wehrte.
Ein ganz besonderer Erfolg der SHCS ist, dass sie als multidisziplinäre Plattform organisiert ist, die Wissenschaftler aus den verschiedensten Gebieten von Anfang an zusammenbrachte, einfach mit dem gemeinsamen Ziel, diese Krankheit zu verstehen und optimal zu behandeln und ihre Weiterverbreitung zu bekämpfen. Heute gilt es schon fast als normal, dass Grundlagenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit Ärztinnen und Ärzten aus verschiedenen Fachgebieten, mit Diagnostikern, Study Nurses, Epidemiologen und Statistikern zusammen Projekte aufgleisen und durchziehen, und das erst noch unter Einbezug aller Universitätsspitäler und weiterer Player. Damals war das völlig neu.

Wie profitieren die Patientinnen und Patienten von diesen Ergebnissen?

In der Schweiz konnten die gewonnenen Erkenntnisse immer sofort in die Praxis umgesetzt werden und das in jeder Phase der Epidemie. Wir konnten immer auch in Studien überprüfen, ob unsere Massnahmen Wirkung zeigten. Da die SHCS eine Langzeitstudie ist, können wir auch Medikamententoxizitäten und Nebenwirkungen noch weiterstudieren, wenn die von der Pharmaindustrie durchgeführten Studien schon abgeschlossen sind. Wir haben auch einen gesamtheitlichen Ansatz und studieren Koinfektionen, Komorbiditäten, Verhaltensmuster usw.

Wo stehen wir heute in der Forschung? Welches sind die drängendsten Fragen?

Auch nach 29 Jahren HIV-Forschung sind noch viele Fragen offen. Können wir HIV je heilen? Dies ist sehr schwierig, da HIV in gewissen Zellen des Immunsystems in inaktiver Form viele Jahre überleben kann und bei Absetzen der antiretroviralen Therapie wieder aktiviert werden kann. Aber es gibt viele interessante und vielversprechende therapeutische Konzepte, die weltweit getestet werden. Aber schnelle Erfolge sind nicht zu erwarten.

Gibt es eine Impfung? Eine Impfung wäre wohl global die wichtigste Errungenschaft. Nur so können wir die Pandemie wahrscheinlich wirklich einmal in den Griff bekommen. Die SHCS hat grundlegende Kenntnisse über das Entstehen von neutralisierenden Antikörpern gegen HIV im Menschen erarbeitet, die für die Impfentwicklung von grosser Bedeutung sein könnten. Es gibt viele weitere Fragen: Wie können wir die HIV-infizierten Menschen noch besser behandeln und z.B. die Nebenwirkungen und Toxizität von Medikamenten reduzieren? Wie die Entwicklung von Resistenzen verhindern und erreichen, dass HIV-Patienten motiviert bleiben, die Therapie über lange Zeit hinweg – bis zu ihrem Lebensende – einzuhalten?

Global die drängendste Frage ist: Wie bringt man genug antiretrovirale Therapien in die ärmeren Länder? Wie kann man den Therapieerfolg über die Dauer in diesen Ländern erhalten? Wie kann man mit dem dort massiv auftretenden Resistenzproblem fertig werden?

Sind die Ergebnisse auch in einem anderen Zusammenhang nützlich?

Die HIV-Infektion hat gezeigt, wie man eine neue Herausforderung forschungsmässig interdisziplinär angehen kann und soll. In der HIV-Medizin gab es nie Konkurrenz zwischen Spitälern. Wir haben uns von Anfang an auf das Problem konzentriert. Wie man medizinisch mit dieser Virusinfektion gelernt hat umzugehen, war völlig neu, z.B. in der Diagnostik, Virusmengenmessung im Blut, Resistenzdiagnostik usw. Die Forschung, Medikamentenentwicklung und Behandlung von anderen Viruserkrankungen wie Hepatitis B und C oder die Transplantationsmedizin haben enorm von der HIV-Forschung und der HIV-Medizin profitiert.

Die SHCS ist auch ein Modell, wie eine chronische Krankheit studiert und mit komplexen Daten umgegangen werden kann. Wir machen schon seit vielen Jahren komplexe human- und virusgenetische Untersuchungen und bringen diese dann mit einer Vielzahl verschiedener Faktoren und klinischen Endpunkten der HIV-Infektion in Verbindung. Vieles, was heute in der personalisierten Medizin bzw. in der «precision» medicine angestrebt wird, wird in der SHCS seit vielen Jahren erfolgreich umgesetzt.

Weitere Informationen:

HIV Kohortenstudie

Prof. Dr. med. Huldrych Günthard, Leitender Arzt, Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene, Leiter HIV-Forschungslabor.