Story

Intensiv in jeder Hinsicht

Zuletzt aktualisiert am 25. Juni 2021 Erstmals publiziert am 10. September 2020

Zu Besuch auf der Intensivstation: Marianne Haggenmacher, Expertin Intensivpflege NDS HF, gibt Einblick in ihren Arbeitsalltag.

Marianne Haggenmacher hält eine Spritze

Einen besseren Job kann sich Marianne Haggenmacher nicht vorstellen: Seit acht Jahren ist sie Gruppenleiterin Intensivpflege.

Es klingelt, tutet, rauscht und brummt. Die Intensivpflege wird begleitet von einem steten Geräteklangteppich in allen erdenklichen Tonlagen – auch früh am Morgen. In dieser Geräuschkulisse richtet Marianne Haggenmacher alles für die erste Behandlungsrunde beim ihr heute zugeteilten Patienten. Vorrangig sind das Medikamente. Zwanzig verschiedene bekommt der frisch Lungentransplantierte morgens über Infusionspumpen, Injektionen und die Magensonde.

Ein bis zwei Patientinnen oder Patienten betreut eine Expertin oder ein Experte Intensivpflege pro Schicht. Die Menschen auf der Intensivstation befinden sich in kritischem Zustand und sind entsprechend aufwändig
in der Behandlung. Marianne Haggen­machers heutiger Patient liegt im künstlichen Koma und ist beatmet.
Zahlreiche Kabel, Schläuche und Kathe­ter führen zum Patienten und von ihm weg – insgesamt zwanzig Stück. Darunter Kabel von Überwachungs­geräten, Beatmungsschläuche, Wund­drainagen, Sensoren, Infusionsschläuche, Urinkatheter und vieles mehr.

Neben der Überwachung des Patienten und der Versorgung der zahlreichen Drainagen und Katheter wird Marianne Haggenmacher heute Blut abnehmen, Medikamente verabreichen, die Körperpflege durchführen, Infusionen um­hängen und den Patienten mehrmals umlagern.

Flexibilität statt Routine

Ist die Intensivstation voll belegt, be­treut das Behandlungsteam maximal zwölf Patientinnen und Patienten.
Die Station ist auf die intensivmedi­zinische Betreuung nach grossen chirurgischen Eingriffen in Bauch­ und Brustraum spezialisiert. «Die interprofessionelle Zusammenarbeit ist bei diesen hochkomplexen Fällen entscheidend», erklärt Marianne Haggenmacher. «Neben unserem Pfle­geteam arbeiten auch Physiothera­peuten fix auf der Station. Sie mobili­sieren die Patientinnen zusammen mit uns und führen Therapien durch, beispielsweise, um die Atmung zu trainieren. Es sind auch immer zwei Ärzte anwesend. Durch die enge Zusammenarbeit entsteht funktionsübergreifend ein sehr ausgeprägter Teamspirit. Jeder respektiert und schätzt das Wirkungsfeld des anderen».

Der Überwachungsapparat des frisch operierten Patienten beginnt plötzlich zu klingeln. Der Blutdruck ist zu tief. Marianne Haggenmacher erhöht die Dosis eines Medikaments, der Blutdruck steigt, das Klingeln verstummt. Ein bisschen wie im Film, nur viel unaufgeregter. Jeder Handgriff sitzt. «Das habe ich schon fast erwartet», sagt sie und lächelt, «auch wenn die Menschen bei uns meist nicht wach sind, lernt man sie doch sehr individuell kennen. Manche haben eher Schwierigkeiten den Blutdruck zu halten, andere mit der Sauerstoffsättigung und wieder andere mit dem Flüssigkeitshaushalt. Mit der Zeit weiss man, worauf man beim jeweiligen Patienten speziell ein Auge haben muss». Viel kann die Expertin selbst lösen, wie gerade eben. Sie muss aber auch entscheiden, wann sie den Arzt beizieht. «Da der Zustand unserer Patientinnen und Patienten instabil ist, ändert sich die Situation oft sehr schnell. Die Erfahrung hilft hier natürlich. Trotzdem setzt die Arbeit auf der Intensivstation eine gewisse Toleranz an Unvorhersehbarem voraus. Und, dass man Verantwortung übernehmen will. Eine fixe Routine gibt es hier nicht».

Und plötzlich war alles anders

Im Frühling 2020 rückte die Intensivpflege mit COVID-19 plötzlich in den Fokus. «Unsere Institutsleitung und das Management haben sehr viele Entscheidungen innert kürzester Zeit fällen müssen und Prozesse entwickelt, die unser Team im Anschluss hervorragend umgesetzt hat» sagt Marianne Haggenmacher. Ein paar Kolleginnen und Kollegen wurden auf die COVID-19 Intensivpflegestationen abberufen. Sie selbst arbeitete weiter auf ihrer angestammten Station, auf der zusätzlich zu den regulären Patienten auch unfallchirurgische Intensivpatienten versorgt wurden. In einem Dreiergespann mit einer diplomierten Pflegenden HF und einer Medizinstudentin betreute sie drei bis vier Patienten pro Schicht. Die Arbeitsorganisation musste damit komplett umgestaltet werden. «Ich habe mein Pensum kurzfristig freiwillig von 50 auf 80 Prozent erhöht. Aktiv etwas tun zu können, hat mir geholfen, mit der neuen und ungewissen Situation umzugehen. Wir haben in kurzer Zeit sehr viel erreicht. Es waren beeindruckende Wochen mit beeindruckenden Menschen. Vor allem die Medizinstudierenden sind mir in guter Erinnerung geblieben. Sie haben in Kürze unglaublich viel aufgenommen und umgesetzt, immer hochmotiviert und sehr reflektiert».

Klar und präsent bleiben

Die Angehörigen des lungentransplantierten Patienten sind eingetroffen. Marianne Haggenmacher erzählt ihnen, wie es dem Ehemann und Vater die letzten Stunden erging und was für heute geplant ist. Es gab keine besorgniserregenden Ereignisse, der Patient war stabil. Die Erleichterung ist entsprechend gross. Wie ist es, wenn der Zustand der Patientin oder des Patienten sehr schlecht ist? Sind solche Gespräche schwierig? «Es kann herausfordernd sein, das schon. Aber als schwierig für mich persönlich würde ich es nicht beschreiben. Ich empfinde es als bereichernd, Angehörige durch diese Zeit zu begleiten. Die Angehörigen befinden sich in einer Extremsituation, haben Angst. Wichtig ist, dass man sehr klar ist und jederzeit präsent und ansprechbar bleibt. Die Situation zu beschönigen, würde nichts ändern. Ich kann aber Orientierung und Halt bieten – dort liegt meine Aufgabe».

Gibt es denn etwas, was die Expertin Intensivpflege persönlich als schwierig empfindet? «Natürlich. Es gibt Schicksale, die sehr berühren. Mich als Mutter nimmt es beispielsweise mit, wenn schwangere Frauen bei uns auf der Abteilung liegen», sagt Marianne Haggenmacher. «Heute ist es zudem medizinisch möglich, Menschen fast uneingeschränkt am Leben zu erhalten. Das stellt uns immer wieder vor die Frage, wo die Grenze ist und wann sie überschritten ist. Das sind ethische Dilemmas, die auch für mich persönlich belastend sein können. Hier ist der ehrliche Austausch im Team sehr wertvoll».

Den Grossteil ihrer Arbeitszeit verbringt Marianne Haggenmacher mit der Betreuung der Patientinnen und Patienten. Daneben führt sie mit einer Kollegin ein Team von zehn Intensivpflegenden in Co-Leitung. «Wir sind beide seit Jahren Gruppenleiterinnen», erklärt sie, «Seit drei Jahren leiten wir die Gruppe nun zusammen. Wir waren eines der ersten Leitungstandems in unserem Bereich. Weil das so gut funktioniert, gibt es dieses Modell nun vermehrt. Das freut mich sehr». Für sie ist der Mix aus Führung und Patientenbetreuung ideal. «Ich mag an meinem Job, dass kein Tag wie der andere ist, die Komplexität, mich ganzheitlich um einen Patienten zu kümmern, die Teamarbeit und auch den Umgang mit Technik und Geräten. Ich würde mir nichts anderes wünschen».

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