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Therapien gegen Blutkrebs

Zuletzt aktualisiert am 16. November 2021 Erstmals publiziert am 14. Oktober 2021

Bei einer Leukämie vermehren sich Zellen, aus denen weisse Blutkörperchen hervorgehen, unkontrolliert. Akute Formen können unbehandelt schnell tödlich verlaufen. In den letzten Jahren hat die Forschung immer mehr über die Ursachen von Blutkrebs herausgefunden. Das macht präzisere Behandlungen möglich.

Text: Helga Kessler

Eine Entzündung im Mund, die nicht abheilt. Die Nase, die immer wieder blutet. Wunden, die sich nicht verschliessen. Das Gefühl, ständig müde und schlapp zu sein. «Treten solche Beschwerden über einen längeren Zeitraum auf, könnte das ein Hinweis auf eine Leukämie sein», sagt Antonia Müller, Oberärztin der Klinik für medizinische Onkologie und Hämatologie: «Oft denkt man nicht daran.» Dabei liefere meist ein einfaches Blutbild den ersten wichtigen Hinweis für die Diagnose.
Wie bei jedem Krebs vermehren sich beim Blutkrebs Zellen unkontrolliert – in diesem Fall handelt es sich um frühe Entwicklungsstadien von Blutzellen im Knochenmark. Dadurch entstehen viele unreife, nicht funktionsfähige weisse Blutkörperchen. Zwei Arten von Zellen können betroffen sein: myeloische oder lymphatische. Aus den myeloischen entwickeln sich beim gesunden Menschen unter anderem Fresszellen des Immunsystems, aus den lymphatischen die für die Immunabwehr wichtigen spezifischen und langlebigen T- und B-Lymphozyten.
«Entarten» die Blutzellen in einem sehr frühen und unreifen Stadium ihrer Entwicklung und teilen sich die Krebszellen entsprechend rasch, spricht man von einer akuten Leukämie – im Gegensatz zur langsam fortschreitenden Altersleukämie. Oft wird hierbei die gesunde Blutbildung verdrängt, was unbehandelt innerhalb weniger Wochen bis Monate zum Tod der Erkrankten führt. Früher standen für die Behandlung lediglich Chemotherapien zur Verfügung. Je aggressiver der Krebs war, desto höher wurde dosiert. Allerdings töten Zytostatika nicht nur Krebszellen, sondern sie richten auch viel Schaden in gesundem Gewebe an. «Eine brachiale Methode», sagt Antonia Müller.

Chemotherapie als erste Wahl

Noch heute ist die Chemotherapie die erste Wahl, auch nach einem Rückfall. Zusätzlich sind nun aber zielgerichtete Therapien möglich. Das liegt daran, dass die Grundlagenforschung in den letzten Jahren viel über die genaueren Ursachen von Leukämieerkrankungen herausgefunden hat. «Heute können wir viele verschiedene Unterarten von Leukämien unterscheiden und so viel besser sehen, welche Patienten wir besonders intensiv behandeln müssen, damit wir die bestmögliche Heilungschance erreichen», sagt Blutkrebsspezialistin Antonia Müller.
Für die exakte Diagnose wird Knochenmark entnommen und mit verschiedenen Methoden untersucht: Um welche Zellarten handelt es sich genau, B- oder T-Zellen, wie reif oder unreif sind sie, sind die Chromosomen verändert oder Gene usw.? Die Untersuchungsergebnisse bestimmen den künftigen Therapieplan. Häufig wird die Chemotherapie mit einer Immuntherapie oder einer anderen zielgerichteten Therapie kombiniert. «Einen guten Teil der Leukämien können wir heute so heilen», sagt Antonia Müller.
Besonders günstig ist die Prognose bei Kindern, ihre Heilungschancen bei einer akuten lymphatischen Leukämie liegen bei über 80 Prozent, bei Erwachsenen mit derselben Leukämieart sind es 40 bis 50 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass Kinder viel höhere Dosen an Chemotherapeutika vertragen als ältere, häufig vorerkrankte Erwachsene. «Wahrscheinlich ist aber auch die Biologie der Erkrankung eine andere», sagt Antonia  Müller. Ob eine zielgerichtete Therapie oder eine Immuntherapie eingesetzt werden kann und welche genau gewählt wird, hängt von bestimmten Eigenschaften auf den Oberflächen der Krebszellen ab. Kennt man die Zielstruktur, kann man Antikörper oder zielgerichtete kleine Moleküle herstellen, die dort ansetzen und die Krebszelle entweder direkt angreifen oder indem sie das Immunsystem aktivieren.

Zielgerichtet mit Antikörpern

Der Antikörper Rituximab bindet selektiv an das CD20-Antigen, eine Oberflächenstruktur, die sich auf gesunden, aber auch auf vielen entarteten B-Lymphozyten findet. Rituximab war einer der ersten monoklonalen Antikörper und wurde ab Ende der 1990er-Jahre für die Behandlung von Lymphdrüsenkrebs und bei chronischer lymphatischer Leukämie eingesetzt. Inzwischen wurden weitere Antikörper-basierte Immuntherapeutika zur Behandlung von B Zelltumoren entwickelt, die nicht nur gegen CD20, sondern auch gegen andere Oberflächenmerkmale gerichtet sind.
Die neuste Entwicklung sind sogenannte chimäre Antigenrezeptoroder CAR-T-Zellen, die die Immunantwort verstärken und bei Lymphomen, aber auch bei Kindern und jungen Erwachsenen mit akuter lymphatischer Leukämie eingesetzt werden (siehe Box). «Bei den myeloischen Leukämien, die vor allem ältere Menschen betreffen, gibt es erst wenig hochpotente Immuntherapeutika, mit denen wir die Krebszellen attackieren können», sagt Antonia Müller.

Transplantation von Stammzellen

Je nach Prognose der Erkrankung können die Chemo- und die Immuntherapie durch eine «allogene Stammzelltransplantation» ergänzt werden. Vor der Übertragung von gesunden Spenderzellen wird mit einer hochdosierten Chemotherapie die gesamte Blutbildung und Immunbarriere des Patienten zerstört. Auch die Transplantation mit Spenderzellen ist im Grunde eine Immuntherapie, weil die transplantierten Zellen eben nicht nur Blutstammzellen enthalten, die für die zukünftige Blutbildung im Empfänger zuständig sind, sondern auch Immunzellen des Spenders. Dieses Spenderimmunsystem kann im Körper fest anwachsen, dort über Jahre verbleiben und wiederauftauchende Krebszellen beseitigen.
Eine strenge Altersgrenze für die Stammzelltransplantation gebe es nicht, sagt Müller, selbst 70-Jährige könnten davon profitieren. Allerdings müsse man sehr gut abklären, welche Begleiterkrankungen vorlägen und wie der generelle Gesundheitszustand des Patienten sei: «Es kommt immer auf den Einzelfall an.»

Optimierte Immunzellen

T-Zellen sind dafür zuständig, fremde Zellen und Erreger zu erkennen und zu vernichten. Doch Krebszellen werden vom körpereigenen Immunsystem meist nicht gut erkannt – und entgehen so der Zerstörung. Die T-Zellen kann man quasi auf Krebszellen abrichten und in ihrer Wirkung verstärken, indem man sie gentechnisch modifiziert und mit der Information für den chimären Antigenrezeptor (CAR) ausstattet. Für die Herstellung von CAR-T-Zellen werden T-Zellen aus dem Blut des Patienten entnommen, im Labor gentechnisch «optimiert» und anschliessend wieder zurückinfundiert. Die CAR-T-Zelltherapie wurde im Oktober 2018 in der Schweiz zugelassen. Eingesetzt wird die aufwändige und teure Behandlung bei Patienten mit Lymphdrüsenkrebs und bei jungen Erwachsenen mit akuter lymphatischer Leukämie, bei denen andere Verfahren nicht zu einer Heilung geführt haben. Bei etwa der Hälfte der behandelten Patienten zeigt die CAR-T-Zelltherapie gute Erfolge. Besonders gut schlägt die Therapie bei Lymphdrüsenkrebs und Leukämie an.

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