Story

«We will rock you!» – Musiktherapie für Frühgeborene

Zuletzt aktualisiert am 14. Dezember 2021 Erstmals publiziert am 12. Januar 2017

Friederike Haslbeck ist Musiktherapeutin in der Klinik für Neonatologie und untersucht die Wirkung von Musik auf die Gehirnentwicklung frühgeborener Kinder. Und sie weiss: Auch die ganz Kleinen haben schon Lieblingslieder.

​Friederike Haslbeck schliesst den Vorhang um das Bettchen und setzt sich auf einen Hocker. Der kleine Manuel (Name geändert) kam viel zu früh zur Welt. Seine ersten Lebenswochen verbringt er deshalb auf der Neonatologie des Unispitals. Er hat sich gut entwickelt, aber ständige Überwachung und Unterstützung beim Atmen braucht Manuel immer noch. Gerade ist er auch etwas unruhig und verzieht das Gesicht. Friederike Haslbeck spricht den kleinen Jungen an, damit er hört, dass sie da ist, und legt ihre Hände erst für einen Moment ganz nah an den Kopf und den Rücken des Babys, dann berührt sie es. Sie nimmt den Atemrhythmus des Kindes auf und beginnt leise zu summen. Während der nächsten Minuten geht ihr Summen in ein Lied über, der Rhythmus wird etwas flotter, dann flachen Intensität und Lautstärke wieder ab und gehen schliesslich in eine kurze Stille über, bevor Friederike Haslbeck sich leise verabschiedet und zu einem anderen Kind geht. Während der gut 20 Minuten dauernden Therapieeinheit hat Manuel sich sichtlich entspannt und ist dann sogar eingeschlafen.

Positive Reize für die Gehirnentwicklung setzen

Das sanfte Einschlafen und die Beruhigung zappeliger Kinder sind bei der Musiktherapie für die Kleinsten willkommene, aber nicht zentrale Effekte. Studien haben gezeigt, dass Musik sich unmittelbar positiv auf die Kinder auswirkte; die Kinder schliefen ruhiger und länger, nahmen mehr Nahrung zu sich, und die Vitalfunktionen waren verbessert. Man vermutet nun, dass Musiktherapie sich auch günstig auf die Entwicklung des Gehirns der frühgeborenen Kinder auswirkt. «Die letzten Wochen der Schwangerschaft sind auch für die Entwicklung des Gehirns noch einmal eine wichtige Phase», erläutert Friederike Haslbeck den Hintergrund. «Kommen die Kinder vorher zur Welt, ist ihr Gehirn noch nicht vollständig entwickelt. Die vielen neuen Reize und Eindrücke setzen das unreife Gehirn unter Stress. Gleichzeitig fallen die aus dem Mutterleib gewohnten und stressmindernden Faktoren wie der Herzschlag der Mutter, das Rauschen ihres Blutes und ihre Stimme weg. Dadurch kann sich die Gehirnentwicklung verzögern». Die Musiktherapie stimuliert verschiedene Bereiche im Gehirn, die für die Sprache, die Motorik und die Emotionen zuständig sind, und reduziert die Stressreaktion. Dadurch kann die Therapie mindestens teilweise die durch die Frühgeburt unterbrochene Entwicklung ersetzen oder fördern. Für den wissenschaftlichen Nachweis dieser Wirkung führt Friederike Haslbeck eine weltweit erstmalige Langzeitstudie in der Klinik für Neonatologie durch. Die randomisierte Studie untersucht die Ausbildung der Hirnstrukturen mit und ohne Musiktherapie. In die Studie aufgenommen werden Kinder, die so früh geboren sind, dass sie mindestens zwei Monate auf der Station bleiben müssen. Beim Spitalaustritt werden das Volumen, die Konnektivität und die Funktion der Gehirne der Kinder mit Magnetresonanztomografie vermessen. Im Alter von zwei und fünf Jahren werden entwicklungsneurologische Nachuntersuchungen gemacht.

Singen für die Kinder – und für die Eltern

Bei der kleinen Malin (Name geändert) kommt das Monochord zum Einsatz. Friederike Haslbeck hat das Saiteninstrument extra für die Musiktherapie anfertigen lassen. «Und der Instrumentenbauer musste dann auch noch lange an einer Lackierung tüfteln, die der häufigen Desinfektion standhält», erinnert sie sich lachend an zahlreiche Fehlversuche. Malin liegt auf dem Brustkorb ihrer Mutter, das Monochord ist an deren Unterarm angelegt. So übertragen sich die Schwingungen auf die Mutter und von ihr auf das Kind. Friederike Haslbeck beginnt, Malins Mutter stimmt ein und übernimmt bald die Führung. Das schwedische Kinderlied hat die Mutter als «ihr» Lied ausgesucht, Friederike Haslbeck hat es dann von ihr gelernt. Sobald die beiden Frauen die ersten Takte davon singen, reagiert Malin, sie erkennt die Melodie und die Stimmen. Malins Mutter hat beruflich mit Kindern zu tun; das Singen mit Kindern ist für sie alltäglich. Sie war aber überrascht, auf einer Intensivstation einem solchen Angebot zu begegnen. «Ich dachte, wenn das meinem Kind gut tut, dann mache ich das natürlich». Inzwischen singt sie bei ihren Besuchen in der Neonatologie auch alleine oder zusammen mit ihrem Mann für ihr Kind. «Ich spüre, wie meine Tochter sich dabei entspannt, und das beruhigt mich wieder. Das Singen hilft uns beiden». Eine Erfahrung, die Friederike Haslbeck schon oft gemacht hat. Mitunter singt sie am Anfang sogar eher für die Eltern als für die Kinder. Die meisten Eltern werden überrascht von der zu frühen Geburt ihres Kindes. Sie sind von ihren Gefühlen überrumpelt und belastet von einem ständigen Schwanken zwischen Freude und Sorge um ihr Kind. Der Einbezug der Eltern in die Musiktherapie ist wichtig, nicht nur, damit sie später zu Hause für ihr Kind weitersingen. Das Singen schafft eine sinnliche Verbindung und die Möglichkeit, etwas für ihr Kind zu tun zu einem Zeitpunkt, an dem Berührungen oft nur begrenzt möglich sind.

Ein Liederbuch, das Mut machen soll

Welche Lieder für die Therapie eingesetzt werden, bespricht Friederike Haslbeck mit den Eltern. Oft sind es Kinder- und Schlaflieder, doch wichtig ist, dass das Lied auch den Eltern gefällt und dadurch eine Beziehung zum Kind entsteht. Häufig texten die Eltern ein bekanntes Lied auf ihre ganz persönliche Situation um. Ein Paar suchte sich den Song «We will rock you» der Gruppe Queen aus. Friederike Haslbeck unterlegte den eher ruppigen Sound dann mit einem neuen Taktmuster, damit das Lied dem Atemrhythmus des Kindes angepasst werden konnte. Aus ihrer so über die Jahre entstandenen Sammlung mit Liedern aus aller Welt entsteht derzeit ein Buch, in dem sie Lieder, Gedanken und neue Texte von Eltern gesammelt hat. «Es soll vor allem für betroffene Eltern eine Anregung sein, aber sie auch ermutigen durch die Beispiele von Eltern in einer ähnlichen Situation».

Was macht sie eigentlich selbst, wenn sie einmal unruhig ist und ihr gar nicht nach Singen ist? «Das kommt nur selten vor. Sobald ich ans USZ komme, spätestens bei der Vorbereitung im Büro oder im Kontrollraum, bin ich automatisch in Stimmung. Ich kann aber grundsätzlich gut umschalten und mich auf die Sache konzentrieren, die vor mir steht». Immer wieder gibt es auch belastende Momente, etwa, wenn ein Kind stirbt. Ausgleich verschafft ihr ihre Familie, in der die Musik eine grosse Rolle spielt. «Und da rocken wir auch mal ziemlich laut ab»!

Friederike Haslbeck studierte Violine an der Musikhochschule in Freiburg i. Br. und schloss ihre Ausbildung als Instrumental- und Musikpädagogin ab, gefolgt von einem Aufbaustudium in Musiktherapie an der Fakultät für Medizin der Universität Witte/Herdecke. Schon in ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich mit den interaktiven Auswirkungen von Musiktherapie auf Frühgeborene. Später adaptierte sie eine Musiktherapie für Komapatienten für frühgeborene Kinder. Inzwischen arbeitet sie auch als Dozentin und vermittelt ihre Erfahrung an andere Musiktherapeutinnen, zudem ist sie aktiv in der Förderung der musikalischen Früherziehung.